![]() Eltern werden ist nicht einfach - vor allem dann, wenn es einen ganz unerwartet trifft. Wie etwa im Fall des älteren Ehepaares Monsieur und Madame Prioux, bei denen plötzlich ein junger Mann vor der Haustür steht, der felsenfest davon überzeugt ist, ihr Sohn zu sein. Und der hat auch noch seine künftige Ehefrau. Ihre Stimme ist da. Sie schwebt in der Küche, so nah, als könne sie das Kind streicheln. 'Alles in Ordnung?' Marius hat das Mobiltelefon auf laut gestellt und beugt sich darüber. 'Klar, Mami.' Wie auf einem Altar liegt das Handy auf der Fensterbank - dem einzigen Ort im Haus, wo der Empfang gut ist. Einmal am Tag, meistens gegen 20 Uhr, spricht der 12-Jährige von hier aus mit seiner Mutter, die in lebt. ![]() Wenige Minuten nur, Trost, Liebe, Hoffnung verdichtet in ein paar Sätzen. Dann legt die Mutter auf. Das Freizeichen brummt. Florica Wacut, die 57-jährige Großmutter, drückt eilig auf die rote Taste. Einen Moment lang ist es still in der Küche. Doch die Stille hat nichts Bedrückendes. Eher etwas Ehrfürchtiges. Die Telefongespräche sind für Marius überlebenswichtig. ![]() ![]() Die täglichen Anrufe der Mutter, die so verlässlich sind wie der Sonnenuntergang hinter den Hügeln der Walachei, beschützen ihn. Davor, sich unsichtbar zu fühlen. In dem Dorf Lipovu wachsen 140 Kinder ohne ihre Eltern auf. EU-Waisen, die bei Großeltern, Verwandten oder Nachbarn aufwachsen, weil ihre Eltern im Ausland arbeiten, gibt es in vielen Ländern Osteuropas. Rumänien, das zu den ärmsten zählt und aus dem sich Investoren gerade wegen der aktuellen Krise verstärkt zurückziehen, ist davon besonders betroffen. Seit 2007 ist Rumänien in der, geschätzte 3,4 Millionen Rumänen arbeiten im Ausland, das ist ein Fünftel der Erwerbstätigen. Sie lassen nach einer Erhebung des Kinderhilfswerkes Unicef rund 350.000 Kinder zurück. Bei ungefähr 125.000 Kindern sind beide Elternteile weggegangen. Um manche dieser Kinder kümmern sich Sozialarbeiter und Psychologen, die rumänische Regierung hat eine kostenlose nationale Notrufnummer eingerichtet, über die die zurückgelassenen Kinder Hilfe anfordern können. Doch die abgelegenen Dörfer in Rumänien erreicht diese Hilfe nur selten. Lipovu ist eines dieser Dörfer. Von den 3100 Einwohnern sind die meisten Erwerbstätigen im Ausland. Manche sind schon seit Jahren weg, andere pendeln als Wanderarbeiter alle paar Monate zu Baustellen und Plantagen bis nach Griechenland und Deutschland. Es sind die Menschen, die wir sehen, wenn wir durch Brandenburg oder das Alte Land bei Hamburg fahren, sie arbeiten beim Spargelstechen oder bei der Apfelernte. Mehr als 140 Kinder wachsen in Lipovu ohne ihre Eltern auf. Zwischen Bukarest und dem kleinen Ort im Südwesten liegen rund 300 Kilometer und mindestens 100 Jahre. Wer die bauwütige Hauptstadt mit ihren gläsernen Bürotürmen und trendigen Lounge-Bars verlässt, reist in die Vergangenheit. Die Straßen werden löchriger, die seltener, man sieht mehr und mehr Pferdewagen. Alles verlangsamt sich. An einem Bahnübergang hält der Schrankenwärter einen Plausch mit dem Lokführer und vergisst dabei die Wartenden vor der Schranke. Niemand hupt. Irgendwann wird sie sich schon öffnen. Dann geht es schnurgerade weiter durch ausgedörrtes Brachland, das hin und wieder von Mais und Sonnenblumenfeldern unterbrochen wird. Fast ein Drittel der Rumänen sind Bauern, die Ackerbau und Viehzucht nur zur Selbstversorgung betreiben. Geld verdienen sie damit nicht. Mächtige Strommasten breiten ihre stählernen Arme über den Feldern aus, Lipovu duckt sich darunter mit seinen einstöckigen Häusern. Zäune mit reich verzierten Toren schirmen noch die ärmsten Höfe von den Schotterstraßen ab. Dahinter: Obstbäume, Wäscheleinen und weiße Satellitenschüsseln, die wie vom Himmel gefallen wirken. Lipovu ist ein verwunschenes Nest, in dem Gänse über die Straßen laufen und das Wasser noch aus den Brunnen im Garten geholt wird. Ein Dorf, wie es sich Kinder ausdenken könnten, wenn sie das Abenteuer 'Allein zu Hause' spielen. Nur dass dieses Spiel hier Wirklichkeit ist. Nach neun Jahren wird Marius seinen Vater wiedersehen. Jetzt, in den Ferien, kommen viele Eltern zurück. Auf der Straße parkt ein mit italienischem Kennzeichen. Zwei Männer räumen den Kofferraum aus. Auch Florica Wacut und ihr Enkel Marius, die sonst nur das tägliche Telefonklingeln herbeisehnen, warten auf Besuch.
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March 2019
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